Biometrie und Willenserklärung

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30.07.2017

Ich freue mich ja immer wieder, wenn ich von neuen Ideen der Biometrie höre. Meistens haben die Leute, die so etwas verzapfen eine genauso enge technische Brille auf, wie ich bei anderen Themen.

Mir fällt zu dieser zu engen technischen Brille in der Biometrie immer die Mitteilung einer Startup-Klitsche ein, die PR-tauglich verkündet hatte, dass sie Menschen am Gang unterscheiden kann und das System als Zugangskontrolle am Bundestag installieren wolle, um seine Vorteile zu demonstrieren.

Der Zeitpunkt dieser Erklärung lag nach dem des Attentats auf Herrn Schäuble - ich denke, mehr muss ich nicht erklären?

Diese Hipster hatten vergessen, dass Biometrieverfahren sich unter anderem daran messen lassen müssen, inwieweit die von ihnen erfassten Merkmale

  • einmalig
  • konstant
  • messbar
  • universell
sind (Quelle: Wikipedia. Besonders die Universalität ist bei dem Merkmal des Ganges und einem Bundestag, dem der Herr Schäuble angehört nur in gewissen Grenzen gegeben.

Darüber hinaus ist es immer wieder schön zu sehen, wofür biometrische Merkmale eingesetzt werden sollen und wie wenig sich die jeweiligen Proponenten darüber Gedanken machen, welche Konsequenzen daraus entstehen. Das klassische Beispiel dafür ist die Authentifizierung am Geldautomaten per Fingerabdruck und die dadurch steigende Bereitschaft, Menschen Finger abzuschneiden.

Generell werfen biometrische Merkmale auch Fragen auf, über die sich trefflich der Kopf schütteln lässt, wenn man sie allgemein gültigen Richtlinien der Sicherheit gegenüberstellt: Man soll zum Beispiel an jedem System immer ein anderes Passwort verwenden.

Dieser Grundsatz funktioniert mit Netzhautabbildern gar nicht und mit Fingerabrücken auch nicht - man hat heute durchschnittlich mehr als 10 Systeme, an denen man sich anmelden muss... Nun könnte man argumentieren, dass die Anregung immer verschiedene Passwörter zu benutzen ja nur dadurch motiviert wird, dass bei Verlust eines derselben nicht alle Accounts kompromittiert werden. Mit biometrischen Merkmalen ist das Problem ein anderes: Passwörter sind nicht an die Identität einer Person gebunden - biometrische Merkmale schon. Aus der Tatsache, dass ich das Passwort eines bestimmten Menschen für GoogleMail kenne, kann ich nicht schlussfolgern, dass ein Microsoft-Konto mit demselben Passwort demselben Individuum zugeordnet werden kann. Bei biometrischen Merkmalen ist das ganz anders: diese eröffnen völlig neue Möglichkeiten zum Nutzertracking...

Und schließlich kommt noch mein Lieblingskritikpunkt an Biometrie zum Tragen: Das Fehlen einer Willenserklärung bei der übergroßen Mehrzahl solcher Verfahren. Sehr schön auf den Punkt gebracht hat das einmal ein Chef der IT einer großen bayrischen Klinik auf einer der D.A.CH-Konferenzen zum Thema IT-Sicherheit: Der erklärte nämlich, dass es nicht reicht, einen Fingerabdruck abzugeben, um einer Behandlung zuzustimmen, denn wenn der potentielle Patient bewusstlos in die Notaufnahme kommt, kann jede/r Pfleger/Schwester/Arzt dessen Finger nehmen und auf einen Fingerabdrucksensor legen.

Es existieren viele Anwendungsfälle, bei denen es um Rechtsgeschäfte oder vergleichbare Konstrukte geht, deren eine notwendige Grundlage eine Willenserklärung ist. Voraussetzungen einer wirksamen Willenserklärung sind aber, dass der Handlungswille, bzw. das Handlungsbewusstsein nachgewiesen werden kann, sowie das Erklärungsbewusstsein: Das Erklärungsbewusstsein kann man zum Beispiel bei dem eingangs erwähnten Beispiel des menschlichen Ganges in Abrede stellen: Konstruiert man den Fall, dass eine Überweisung durch die Analyse des Ganges autorisiert werden kann, könnte ich mich einfach in die Fußgängerzone stellen und mit einer Kamera auf Leute zielen: durch deren Gang würden sie die Autorisierung erteilen, wären sich aber dabei gar nicht bewusst, dass sie eine solche erteilen.

Für das Handlungsbewusstesin, bzw. das Fehlen desselben ist der Fall des Bewusstlosen und seines Fingerabdrucks ein hervorragendes Beispiel. Zusammenfassend kann man also sagen, dass Biometrie eine der gehypten Technologien des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ist, die - wenn man sie hinterfragt - aus diversen Gründen in ihrer Anwendbarkeit mit sehr viel Vorsicht genossen werden sollte...

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